In Innovationsprojekten zeigt sich immer wieder: Idealvorstellungen von Abläufen treffen selten die Realität. Prozesse, sei es in Teams oder Verwaltungen, weichen oft stark von dem ab, was angenommen wird. Vor allem dort, wo Abweichungen kritisch betrachtet werden, bleibt diese Diskrepanz oft unausgesprochen.
Wie lässt sich der Weg von idealisierten Vorstellungen zur realistischen Umsetzung gestalten? Smart City Designerin Anja Lüttmann und Projektmanagerin für Verwaltungsinnovation Pauline Boos teilen in diesem Interview ihre Erfahrungen und zeigen, wie sie Prozesse analysieren, Problemfelder erkennen und passende Lösungen erarbeiten – Schritt für Schritt.
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Pauline, welche Diskrepanzen zwischen idealisierten Prozessvorstellungen und der Realität sind Dir bisher bei Deiner Arbeit begegnet und wie bist Du diese angegangen?
Pauline Boos: Oft kommen Projektpartner:innen zu uns, die Prozesse modernisieren, digitalisieren oder neue Tools einführen möchten. Unsere Aufgabe ist es dann, die Problemstellung zu analysieren und die daraus resultierenden Anforderungen herauszuarbeiten. Das Ziel ist es, den Partner:innen eine klare Grundlage für weitere Schritte wie die Beschaffung oder Entwicklung zu geben.
In einem Projekt ging es beispielsweise um die Modernisierung eines Antrags beim Glasfaserausbau. Der aktuelle Prozess ist langwierig und basiert auf einem veralteten Verkehrsinformationssystem. Wir haben analysiert, wie der Prozess derzeit abläuft, und untersucht, wo eine digitale Lösung ansetzen könnte. Dabei fiel schnell auf, dass der modellierte Geschäftsprozess nicht immer mit der Realität in den 12 Berliner Bezirken übereinstimmt. Die tatsächlichen Vorgänge unterscheiden sich teils erheblich – von den Rollen der Beteiligten bis hin zu den organisatorischen Abläufen.
Diese Unterschiede können bei der Digitalisierung zu großen Herausforderungen führen, beispielsweise bei der Vergabe von Zugriffsrechten.
Seid ihr zu einer Lösung gekommen?
Pauline Boos: Wir haben vor allem darauf hingearbeitet, ein Bewusstsein für diese Herausforderungen zu schaffen. Wir konnten deutlich machen, dass es unvermeidlich ist, die individuellen Prozesse der Bezirke zu analysieren und Abweichungen zu berücksichtigen, bevor eine digitale Lösung umgesetzt wird. Das war keine einfache Botschaft, denn viele wünschen sich eine schnelle Lösung. Doch wir haben auch betont, dass eine nachhaltige Umsetzung Verantwortlichkeiten und Organisation erfordert – etwas, das nicht immer direkt von uns übernommen werden kann, sondern von den Projektbeteiligten selbst getragen werden muss.
Anja, wie war die Situation in deinem Projekt?
Anja Lüttmann: Ähnlich und doch anders. In meinem Fall ging es um einen digitalen Prototyp für eine Taskforce innerhalb der Stadtverwaltung. Diese Taskforce sollte Bauvorhaben in Berlin koordinieren und Abhängigkeiten zwischen Projekten sichtbar machen. Der bestehende Prozess war extrem fehleranfällig, mit zahlreichen Medienbrüchen und einer schlechten Kommunikation zwischen den Beteiligten. Als wir ins Boot geholt wurden, war bereits eine Designagentur beauftragt und es wurden erste Screens erstellt. Unsere Projektpartner:innen dachten, wir könnten das schnell umsetzen und das Tool wäre in Kürze einsatzbereit. Doch wir merkten schnell, dass weder die Problemstellung klar war, noch die Anforderungen wirklich zu den angedachten Funktionen passten.
Was habt ihr dann gemacht?
Anja Lüttmann: Wir haben zunächst zwei Workshops organisiert. Im ersten Workshop haben wir gemeinsam mit den Anwender:innen den Status-quo-Prozess analysiert. Dabei wurde schnell klar, dass die Beteiligten noch nie zusammen auf den gesamten Prozess geschaut hatten – die eine Hand wusste nicht, was die andere tut. Wir haben dann konkrete Problemfälle identifiziert und festgestellt, dass zwei der Probleme durch einfache Prozessänderungen sofort gelöst werden konnten. Das dritte Problem erforderte jedoch ein digitales Tool, um Abhängigkeiten zwischen Bauvorhaben dynamisch abzubilden. Leider hat keines der getesteten Tools perfekt gepasst. Doch durch das Testing konnten wir die Anforderungen schärfen und priorisieren. Am Ende standen die Verantwortlichen mit einem klaren Anforderungsprofil da, das sie für eine Ausschreibung nutzen konnten.

Das klingt, als hättet ihr in beiden Projekten ähnliche Herausforderungen gemeistert: Idealvorstellungen versus Realität. Gibt es aus Eurer Sicht eine übergreifende Erkenntnis?
Pauline Boos: Absolut! Ein Schlüssel liegt darin, die Komplexität und Diversität von Prozessen frühzeitig anzuerkennen und offen zu kommunizieren, dass es nicht immer schnelle Lösungen gibt – wobei es durchaus projektabhängig sein kann: Manchmal finden wir einfache Lösungen, und manchmal ist es notwendig, Dinge bewusst zu verkomplizieren, um nachhaltige Ergebnisse zu erzielen.
Anja Lüttmann: Ja, und auch darin, die Anwender:innen frühzeitig einzubeziehen. Prozesse können oft durch einfache Anpassungen verbessert werden, ohne direkt neue Tools entwickeln zu müssen.
Pauline Boos: Wir stellen oft fest, dass Projekte sehr schnell voranschreiten, ohne dass die Problemdefinition oder die Analysephase ausreichend vertieft wird. Das führt dann dazu, dass später unvorhergesehene Probleme auftreten. Gerade in komplexen, organisationsübergreifenden Projekten sehen wir, dass die Abstimmung zwischen Beteiligten oft nicht ausreicht. Da muss man manchmal einfach sagen: „Stopp, lasst uns noch mal zurückgehen und uns die Grundlagen anschauen.”
Anja Lüttmann: Ganz genau! Die größte Hürde ist oft die Angst vor Komplexität. Wir erleben, dass viele Projektpartner:innen nicht tief in ein Thema eintauchen wollen, weil sie glauben, dass es dadurch nur noch komplizierter wird. Unser Mehrwert liegt dann darin, diese Komplexität gemeinsam anzugehen und Schritt für Schritt zu priorisieren. Der Prozess kann anstrengend sein, aber am Ende steht eine klare Richtung, in die man gehen kann.

Wie nehmt ihr die Projektpartner:innen in solchen Prozessen mit?
Pauline Boos: Ein wichtiger Punkt ist, dass wir den Beteiligten vermitteln, dass ihre Perspektive zählt und dass sie durch ihre Mitarbeit tatsächlich Einfluss auf die Lösung haben. Das schafft Akzeptanz für Veränderungen und fördert die Selbstwirksamkeit. Wenn die Menschen sehen, dass ihre Arbeit zu einer Verbesserung führt, sind sie motivierter, sich auf das Vorgehen einzulassen. Ich glaube, es ist wichtig, diesen Prozess des Verstehens nicht als zusätzliche Last, sondern als Chance zu sehen. Es macht Spaß, in eine Art „Detektivmodus“ zu gehen und zu schauen, was wirklich passiert. Man kann dabei so viel lernen – nicht nur über die Prozesse und Verfahren, sondern auch über die Menschen dahinter.
Anja Lüttmann: Genau, und wenn man sich die Zeit nimmt, ein Problem wirklich im Kern zu verstehen, kann man oft Erkenntnisse gewinnen, die weit über das aktuelle Projekt hinausgehen. Am Ende sind es meistens nicht die Technologien, die Probleme bereiten, sondern die Art, wie wir zusammenarbeiten. Und das zu verstehen, ist der Schlüssel zu nachhaltigen Lösungen.