Stadtpuls Stories zeigen, wie Sensordaten der Website stadtpuls.com auf kreative Weise genutzt werden können, um spannende Geschichten über die Stadt Berlin zu erzählen. Ob im Rahmen eines Citizen Science Projektes oder für einen wissenschaftlichen Artikel im Bereich Datenjournalismus — unsere frei verfügbaren Templates helfen dir, deine eigene Geschichte zu erzählen. Die folgende Geschichte wurde von Lisa Stubert und Ester Scheck von der Open Data Informationsstelle (ODIS) verfasst. Sie beschäftigt sich mit der Lärmkulisse des Wrangelkiezes in Kreuzberg.
Der Rhythmus des Wrangelkiezes
Eine Boombox dröhnt im Park, die U1 quietscht über die Hochbahnstrecke und die Polizei rückt mal wieder mit Sirenen an: Eine typische Soundkulisse im Berliner Szenekiez. Klingt nicht sonderlich angenehm? Wir haben uns gefragt, welche Rolle Lärm für die Identität eines Kiezes spielt und welche Muster es gibt. Wie empfinden Kiezbewohner:innen die Geräusche vor ihrem Fenster und lassen sich diese subjektiven Eindrücke in Sensordaten zum Lärmpegel wiedergeben? Hier erzählen wir die Geschichte von versteckten Hinterhöfen, einem lauten Supermarkt und einer Entführung.
Der akustische Puls einer Stadt
Absolute Stille, das gibt es praktisch nur im Vakuum. Da, wo sich Schall ausbreiten kann, gibt es auch Geräusche und wo viele Menschen auf engem Raum leben, kann es schnell laut werden. Der akustische Puls der Stadt schlägt im Takt der Aktivität seiner Bewohner:innen und Besucher:innen und in Berlin kommt er selten zum Stillstand. Das Problem dabei ist: Lärm wirkt auf den gesamten Organismus, indem er körperliche Stressreaktionen auslöst. Das kann dazu führen, dass wir uns nicht nur unwohl oder genervt fühlen, sondern sogar krank werden. Die Betrachtung von Geräuschkulissen und -mustern hat daher in den vergangenen Jahren insbesondere in Diskursen um urbane Räume und Lärmbelastung als Gesundheitsrisiko zunehmend an Bedeutung gewonnen.
Was wir über Lärm in Berlin wissen
Offene Verwaltungsdaten helfen uns, die Lärmbelastung in Berlin zu verstehen und zu bewerten. Die strategischen Lärmkarten zeigen, wie sich der Lärm des Hauptverkehrsstraßennetzes und des Schienennetzes auswirkt und Erhebungen zur Verkehrslärmexposition zeigen, dass 12,3% der Berliner:innen einer gesundheitskritischen Belastung allein durch Kfz-Verkehr ausgesetzt sind. Was in den Daten bisher nicht abgebildet ist, sind kleinräumige Auswirkungen und kleinskalige, zeitliche Muster, sowie die Belastung durch Nachbarschaftslärm. Wann jede:r Einzelne eine Geräuschkulisse als Lärm empfindet, ist außerdem nicht klar zu sagen, sondern hängt vom subjektiven Empfinden ab.
Den Puls sichtbar machen
Wir wollten wissen: Wie wird die Lebensqualität im Kiez durch Lärm beeinflusst? Welche kleinräumigen und zeitlichen Muster gibt es in Kiezen? Gibt es Zeiten und Orte, die besonders laut oder leise sind? Wie gut können wir Lärmmuster messen und passen subjektive Eindrücke und gemessene Daten zusammen?
Wir haben sieben Lautstärkesensoren an Fensterbänken im Wrangelkiez installiert, um im Verlauf einer Woche den akustischen Puls des Quartiers zu erfassen
Die Hardware
Die Grundlage für unser Sensorsetting besteht aus einem Heltec WiFi LoRa 32 (V2) Board. Dieses haben wir mit einen Sensor Max9814 Mikrofon AGC Amplifier zur Lautstärkemessung verbaut. Der nötige Strom zum Betrieb des Boards kommt über die Verbindung zu einer Steckdose oder über eine Powerbank. Ergänzt wird das Ganze durch ein wasserfestes Gehäuse, in unserem Fall eine einfache Plastiktüte, um Board und Sensor vor Wind und Wetter zu schützen.
Die Heltec Boards eignen sich besonders gut für Sensorprojekte, weil sie Wifi und LoRaWan unterstützen und über ein integriertes Display verfügen, um Statuswerte anzuzeigen oder Einstellungen vorzunehmen. Mit knapp 30 Euro sind sie allerdings auch nicht ganz preisgünstig. Die Lötarbeit ist mit nur drei Verbindungen zum Sensor schnell erledigt. Wir haben das Board so programmiert, dass wir pro Minute einen gemittelten Lautstärkewert erhalten. Den Code, den wir auf die Boards gespielt haben, findest du übrigens hier.
Lärm im Wrangelkiez
Der Wrangelkiez ist ein dicht bebautes Quartier und liegt zwischen Görlitzer Park, Skalitzer Straße, Spree und Landwehrkanal im Osten des Szenebezirks Kreuzberg. Laut der strategischen Lärmkarte ist er an den Rändern stark von Verkehrslärm durch zwei Hauptstraßen und die Hochbahn (U1 und U3) betroffen. Im Inneren des Kiezes wurden in den vergangenen Jahren einige verkehrsberuhigende Maßnahmen eingeführt. Die Karte zeigt dort moderate Werte an, der Effekt kleiner Straßen fließt aber auch nicht in die Lärmkarte ein. Im Zentrum des Wrangelkiezes befinden sich außerdem viele Cafés, Restaurants, Bars und Clubs und der Kiez ist für seine Lebendigkeit, aber auch als Standort für Drogendealer:innen und co. bekannt.
Sensorstandorte und Messungen
Für unsere Sensoren haben wir sieben Sensorpaten und -patinnen gefunden, deren Wohnstandorte verschiedene Facetten im Kiez widerspiegeln: Von der begrünten Seitenstraße oder einer Hinterhoflage über die Randlage am Görlitzer Park bis hin zur hochfrequentierten Straßenkreuzung oder in direkter Nachbarschaft zur Gastronomie. Unsere Sensoren wurden auf den Fensterbänken platziert und haben dort Ende November für den Zeitraum von einer Woche Daten aufgenommen. Klicke auf die Standorte der Sensoren in der Karte, um zu erfahren, wie die Bewohner:innen selbst ihre Wohnlage beschreiben und die Lautstärke subjektiv bewerten. Im Graphen unten siehst du die Messreihe des jeweiligen Sensors.
Wo ist’s am lautesten? – Analyse der Messreihen
Was bei Betrachtung fast aller Messreihen als erstes auffällt, ist der deutlich erkennbare Tag-Nacht-Puls. Bei genauerem Hinsehen ist außerdem der Einfluss der Wochentage auf den Kurvenverlauf zu erkennen: Die Kurven eines Tagesverlaufs unterscheiden sich leicht an Wochen- und Wochenendtagen, wie stark, scheint allerdings abhängig vom Sensorstandort zu sein. Mit Abstand die höchsten Lärmpegel erreichen bei unserer Messung die beiden Sensoren Fadil (Falkensteinstraße) und Grace (Skalitzer Straße). Die recht hohe Verkehrsbelastung mit ca. 21.000 Kraftfahrzeugen pro 24 Stunden, sowie die Nähe zur Hochbahn entlang der Skalitzer Straße schlagen sich also in unseren Messwerten wider. Platz 3 in der Rangfolge belegt Albert (Wrangelstraße), obwohl es dort nachts sogar überraschenderweise ruhiger ist, als bei Sensor Dafne, nur wenig weiter östlich in der Wrangelstraße. Im Allgemeinen einen Tick leiser ist es gegenüber dem Görlitzer Park bei Camille. Komplett aus dem Rahmen fällt der Sensor Hector, gelegen in einem Hinterhof. Dieser Standort ist nicht nur eindeutig der leiseste, sondern weist sogar nur leichte Tag-Nacht-Muster auf.
Alles wie erwartet? – Vergleich mit der subjektiven Einschätzung
Der efeubewachsene Hinterhof, in dem Hector seine Messungen aufnahm, scheint ein Glücksgriff zu sein, wenn man eine ruhige Oase im Kiez sucht. Die niedrigen, gemessen Lärmwerte decken sich gut mit der Einschätzung des dort ansässigen Sensorpatens. Im Gegensatz dazu wurde der Standort von Albert mit 10/10 als am lautesten bewertet, im gemessenen Ranking liegt er aber nur auf Platz 3. Der Sensorpate von Albert gab auch an, die Geräuschkulisse seiner Wohnlage als sehr störend zu empfinden. Das liegt unter anderem an dem gegenüberliegenden Supermarkt, der als inoffizieller Treffpunkt dient und vor dem es öfters zu Auseinandersetzungen kommt. Vielleicht erklärt diese Nähe zum Supermarkt, warum Albert tagsüber deutlich höhere Werte verzeichnet als Dafne. Der Pate von Sensor Grace an der Skalitzer, hat seinen Standort als weniger laut und nur leicht störend bewertet. Das ist mit Blick auf die Messwerte zunächst überraschend. Dieser Vergleich zeigt, dass die Frage, wann laute Geräusche als Lärm empfunden werden, auch eine Frage persönlicher Empfindsamkeiten ist. Eine weitere Erklärung ist, das verschiedene Lärmarten bzw. Geräusche unterschiedlich wahrgenommen werden. Mehrere Sensorpaten haben uns berichtet, das kurze Lärmspitzen, wie eine Sirene oder eine punktuelle, lautstarke Auseinandersetzungen auf der Straße, für sie die größten Störfaktoren sind. Solche Spitzen ließen sich durch unsere Sensoren nicht zweifelsfrei messen und identifizieren. Betrachten wir zum Beispiel die Kurve von Grace, erkennen wir mehrere auffällige Ausreißer. Gut möglich, das diese durch vorbeifahrende Einsatzfahrzeuge zustande kamen, sicher können wir das aber nicht sagen.
Lief ja wie geschmiert? – Einflussfaktoren, Probleme und eine Entführung
Bei der Interpretation der Werte nicht zu vernachlässigen sind natürlich weitere Einflussfaktoren wie Jahreszeit, Temperaturen und Wetter. Die Geräuschkulisse auf der Wrangelstraße ist im November, zum Zeitpunkt unserer Messungen, erfahrungsgemäß ruhiger als im Sommer. Die von den Anwohner:innen empfundene Lärmbelastung bezieht sich aber natürlich auf einen längeren Zeitraum als unsere Messungen. Unsere Messwoche war zudem vergleichsweise ungemütlich, mit leichtem Regenfall, was den Aufenthalt im Freien nicht gerade fördert. Das dürfte den Nachbarschaftslärm tendenziell eher verringern, als den Straßenverkehrslärm.
Ungünstig für die Auswertung der Daten sind auch fehlende Messwerte, das betrifft insbesondere Camille, an einem der Tage konnten hier aufgrund von WLAN-Abbrüchen nur wenige Messwerte aufgenommen werden.
Unerwartet ruhig zeigte sich auch Sensor Bob. Knappe 12 Stunden stand er auf einem Fensterbrett im Hochparterre der Sorauer Straße, bis Unbekannte ihn gegen Mittag entführten. Für unsere Auswertung ist dieser Standort damit verloren, wir können aus Bobs letzten Messwerten nur erahnen, das es in dieser kleineren Seitenstraße etwas ruhiger zugeht als in der benachbarten Wrangelstraße. Wo immer du jetzt bist Bob, wir hoffen, es geht dir gut!
Analyse der Lärmmuster
Nach dem eher allgemeinen Vergleich der Lärmkurven, haben wir uns noch einer weiteren Analyse gewidmet. Wir wollten wissen, welche zeitlichen Muster sich an den verschiedenen Standorten ergeben und wie diese sich im Kiez unterscheiden. Dafür haben wir für jeden Sensor die Mittelwerte aller gemessenen Daten jeweils über verschiedene Tageszeiten, Wochentage und Stunden berechnet.
Wenig überraschend ist, dass bei jedem Sensor die Lautstärke nachts nach unten geht. Der Unterschied zwischen Tag und Nacht ist dabei grundsätzlich zwischen den Sensoren ähnlich, jedoch bei Albert (Wrangelstraße) besonders groß und bei Hector (Hinterhoflage) besonders klein. Morgens (6- 12 Uhr) ist die Lautstärke an allen Standorten am höchsten, meist knapp gefolgt von dem abendlichen (18- 0 Uhr) Lärmpegel. Dies entspricht dem weit verbreiteten Tagesablauf von morgens aufbrechen und abends nach Arbeit, Freizeitprogramm, Erledigungen usw. wieder nach Hause zurück kehren.
Sonntags ist es an fast allen Sensorstandorten ruhiger als an den anderen Wochentagen, nur bei Camille (Görlitzer Straße) und Hector (Lübbener Straße) waren der Freitag bzw. der Mittwoch noch ein wenig ruhiger, wobei Camille durch WLAN-Ausfälle hier keine zuverlässigen Daten geliefert hat. Die lautesten Tage unterscheiden sich durchaus zwischen den verschiedenen Sensoren. Bei Sensor Albert in der Wrangelstraße und bei Sensor Grace (Skalitzer Straße) war insbesondere Freitag und Samstag viel los, wobei die hohen Durchschnittswerte insbesondere auf die kürzeren und weniger ruhigen Ruhephasen in der Nacht zurückzuführen sind. Gerade in der eigentlich verkehrsberuhigten Wrangelstraße spricht das für eine erhöhte Lärmbelastung durch das „Nachtleben“. Bei Fadil zeigen sich dagegen kaum Unterschiede in den Wochentagen, hier ist es einfach jeden Tag ähnlich laut.
An fast allen Sensorstandorten wird es nach einem Mittagshoch ab 16 Uhr bzw. 17 Uhr konstant leiser, nur beim unzuverlässigen Sensor Camille gibt es um 20 Uhr nochmal einen Peak. Ein eindeutiger durchschnittlicher Tiefpunkt ist bei allen Standorten zwischen 1 Uhr und 3 Uhr nachts zu erkennen. Bei den meisten Standorten liegt er bei 2 Uhr, bei Albert jedoch erst bei 3 Uhr und bei Hector im Hinterhof bricht bereits um 1 Uhr die ruhigste Stunde an.
Das Fazit
Einige der hier präsentierten Erkenntnisse, zum Beispiel, dass es nachts und im Hinterhof ruhiger ist als zu anderen Zeiten und an anderen Orten, sind vielleicht nicht allzu überraschend. Aber hättest du gedacht, dass es an allen Orten morgens am lautesten ist? Oder dass die Besucher:innen eines kleinen Supermarktes die Nachbarschaft deutlich messbar beschallen? Einige Ergebnisse werfen außerdem neue Fragen auf: Worauf sind Ausschläge der Lautstärke zurückzuführen? Warum sind die Standorte der beiden Sensoren in der Wrangelstraße in der Nacht so unterschiedlich laut? Und vor allem: Wo ist Bob? Unser Sensorprojekt zur Lautstärke im Wrangelkiez macht also Lust, sich weiter damit zu beschäftigen, auch wenn wir zugeben müssen, dass das Thema Lautstärke aufgrund seiner physikalischen Komplexität durchaus ein harter Brocken für uns war. Wenn du Lust hast, die Lärmmuster vor deinem Fenster sichtbar zu machen, dann verbinde doch deinen eigenen Sensor mit Stadtpuls und nutze unseren Code zur Auswertung!
Unser Code
Wenn du mehr darüber erfahren willst, wie wir unsere Sensordaten verarbeitet haben, dann guck doch mal in unserem Online Python Notebook vorbei. Dort findest du den Code, den wir verwendet haben, um die Rohdaten von der Stadtpuls-API abzufragen, zu filtern und ein paar Berechnungen anzustellen. Die dort generierten CSV-Dateien haben wir benutzt, um die interaktiven Visualisierungen für diese Story zu erstellen. Den Code für die Graphen findest du im Repository zu dieser Story.
Den kompletten Python-Code zur Verarbeitung der Daten findest du in Deepnote.
Vielen Dank an das Team von Stadtpuls vom CityLAB Berlin, das die Sensoren zusammengebastelt und bereitgestellt hat. Wir danken auch allen Sensorpatinnen und -paten, die unsere Sensoren Albert, Bob, Fadil, Dafne, Camille, Hector und Grace bei sich Zuhause aufgenommen und Eindrücke und Erlebnisse aus ihrem Kiez mit uns geteilt haben.
Dieser Beitrag wurde von Ester Scheck und Lisa Stubert von der Open Data Informationsstelle (ODIS) verfasst.